Grenzen setzen: 4 sichere Wege zu mehr Selbstbestimmung

Frau mit ausgestreckter Hand, die Grenzen setzt

Grenzen setzen – das klingt fast immer leichter, als es in der Praxis ist. In einer Welt, die uns ständig vor neue Anforderungen stellt, sei es im Job, in unseren Beziehungen oder durch die ständige Erreichbarkeit via Handy und sozialen Medien, fällt es uns immer schwerer, klare Grenzen zu ziehen. Doch ohne Grenzen wird unser Leben zur Zerreißprobe. Unsere Grenzen sind wie unsichtbare Verteidigungslinien, um uns vor Überforderung, emotionaler Erschöpfung, Respektlosigkeit und anderen äußeren Einflüssen zu schützen. Und sie sind wesentlich vielfältiger und komplexer, als wir annehmen, wie ihr im folgenden lesen werdet.

Die Erkenntnisse dieses Artikels basieren zu einem großen Teil auf der beeindruckenden Arbeit von Dr. Faith G. Harper, welche sich seit Jahren mit Grenzen und deren Implikationen befasst, sowohl auf praktischer als auch theoretischer Ebene.

Grenzen sind nicht gleich Grenzen. Welche Arten gibt es?

Nicht alle Grenzen sind gleicher Natur. Dies erklärt, warum es uns in manchen Bereichen sehr leicht fallen kann, unsere Grenzen zu kommunizieren – und in Anderen wiederum nicht.

Physische Grenzen

Physische Grenzen sind relativ selbsterklärend und sie gehören zu denen, auf die wir meist intuitiv bereits sehr gut achten. Sie zeigen auf, wie viel Nähe und Distanz zwischen uns und unserem Gegenüber herrschen soll und inwiefern wir Berührungen dulden oder mögen.

Eigentumsgrenzen

Man könnte meinen, auch beim Thema Eigentum seien Grenzen noch selbsterklärend – und meistens sind sie das auch: Wenn wir ein Produkt kaufen, ist es unseres. Was passiert nun aber, wenn uns jemand etwas schenkt, und es dann doch zurück möchte? Oder wir immer auf demselben Platz sitzen seit Jahren, eines Morgens aber jemand Anders auf exakt dem Platz sitzt? Manch einer von uns wird sich wahrscheinlich auf den Schlips getreten fühlen und das Gefühl haben, eine Grenze von uns sei überschritten worden – dabei gibt es für diese Grenze keinen klar vorliegenden Vertrag oder eine Rechnung. Dennoch ist sie da.

Sexuelle Grenzen

Sexuelle Grenzen sind glücklicherweise ein Thema, das immer mehr an Bedeutung gewinnt. Durch das Prinzip des „consent“ ist vielen von uns bereits bewusst geworden, wie komplex Grenzen alleine hier schon sein können. Wen mögen wir? Was mögen wir? Wann mögen wir es? Es kann auch sein, dass wir eine gewisse Sache eigentlich schon mögen, aber nicht immer und nicht mit Person X.

Intellektuelle Grenzen

Hier geht es um unsere Gedanken, unsere Ideen und Werte. Wir können jemanden hinsichtlich dieser pragmatischen Ansätze respektieren, und dennoch emotional nicht mögen.

Spirituelle Grenzen

Spirituelle Grenzen beziehen das „große Ganze“ mit ein. Dieses große Ganze hat immer auch viel damit zu tun, wo wir uns zugehörig fühlen und unserem persönlichen „Warum“ im Leben. Hier finden sich Grenzüberschreitungen z.B. darin, dass man jemanden dazu zwingt, eine Religionsform auszuüben, mit der er sich nicht identifiziert, oder ähnliches.

Zeitliche Grenzen

Unsere zeitliche Grenze wird dann strapaziert, wenn unser Terminkalender eh schon zum bersten voll ist, aber jemand dennoch unbedingt Zeit mit uns verbringen möchte und ein „Ich habe keine Zeit“ nicht akzeptiert wird, z.B. durch ein vorwurfsvolles „Wieso? Was hast du denn alles zu tun?“

Emotional-beziehungsbezogene Grenzen

Hier geht es darum, unsere eigene Person und die Person des Anderen zu respektieren. So respektieren wir z.B. die Grenzen einer anderen Person und unsere, wenn wir jeden seine bzw. ihre eigenen Erfahrungen machen lassen und nichts „überstülpen“ oder erzwingen. Hier gehört übrigens auch dazu, dass wir nicht in das – so umgangssprachlich genannte – „Helfersyndrom“ verfallen und die Verantwortung für die Gefühle und Situationen anderer Personen übernehmen: Dies geschieht bei einigen unter uns gerne, wenn es einer Person in unserem Umfeld schlecht geht und wir das Gefühl haben, wir müssen für sie da sein und oder das Gefühl das sie hat schnell für sie beseitigen.

Deine Grenzen: Starr, flexibel oder durchlässig?

Darüber hinaus können wir starre Grenzen, durchlässige Grenzen und flexible Grenzen haben.

Starre Grenzen sind Dinge, die für uns absolut nicht verhandelbar sind. Dass eine fremde Person einfach so unsere Autoschlüssel an sich nimmt und mit unserem Auto herumfährt, wird z.B. wohl wahrscheinlich dazu gehören. Ist die Person jedoch ein Freund und muss zu einem dringenden Arzttermin, weil ihr Kind erkrankt ist, sieht das Ganze eventuell sehr anders für uns aus, und wir könnten dann nichts dagegen haben, dass sie unser Auto und unsere Autoschlüssel an sich nimmt. In diesem Fall sprechen wir von flexiblen Grenzen. Beides hat seine vollkommene Richtigkeit.

Dann gibt es allerdings auch die durchlässigen Grenzen – sie sind höchstwahrscheinlich der Grund, warum du dich für diesen Artikel hier interessierst: Durchlässige Grenzen haben wir, wenn wir eigentlich etwas wollen, es dann jedoch nicht schaffen, dafür einzustehen.

Das kann z.B. der Fall sein, wenn du dir fest vorgenommen hast, heute pünktlich aus der Arbeit zu gehen, dein Chef dich jedoch gebeten hat, noch etwas länger zu bleiben, und du dann gefrustet Überstunden machst. Oder wenn du gerade eigentlich wirklich keine Zeit zu telefonieren hast, und dennoch genervt am Telefon hängst, weil dein Gegenüber einfach nicht auflegen will.

Nahezu jeder Mensch hat mit durchlässigen Grenzen zu tun – weil es uns oftmals nie beigebracht wurde, unsere Grenzen zu respektieren und aktiv zu verteidigen und einzufordern. Tatsächlich könnte man, je nachdem in welcher Generation du geboren bist, sogar sagen, dass systematisch versucht wurde und wird, unsere Grenzen niederzutrampeln. Sei es im Familienbund „Nein, das darfst du nicht, du musst ….“, in der Schule beim stundenlangen stillsitzen selbst bei ungeliebten Fächern oder als Erwachsener bei langen Dienstzeiten, die es abzuarbeiten gilt, ganz unabhängig davon, wie du dich gerade fühlst oder wie suboptimal deine Arbeitsbedingungen sind.

Warum ist es so schwer, auf unsere Grenzen zu achten?

Die oben beschriebene Komplexität und Vielfältigkeit von Grenzen ist sicher einer der Mitgründe, dass es uns oft so schwer fällt, sie richtig zu setzen.

Auch natürlich, dass wir in den seltensten Fällen gelernt haben, wie man dies eigentlich tut und wie wir genug in uns hineinspüren, um zu wissen, wann eine überschritten wurde.

Viel häufiger lernen wir jedoch tatsächlich, wie wir über unsere Grenzen drüber zu gehen haben: Du hast keine Lust in der Schule 6 Stunden oder länger die Schulbank zu drücken? Pech gehabt. Du bist überfordert und überarbeitet und möchtest heute lieber nicht arbeiten? Tja. Da kann man nichts machen.

Glücklicherweise nehmen die Kontexte, in denen wir tatsächlich über unsere Grenzen gehen müssen, mit zunehmendem Alter ab. Auch, wenn es sich oft anders anfühlt – meistens haben wir die Freiheit und Möglichkeit, einen Job zu wechseln, der uns nicht gut tut, eine Partnerschaft abzubrechen mit einem Partner, der unsere Grenzen nicht respektiert, und uns generell unser Umfeld so aufzubauen, dass es mit unseren Grenzen harmoniert.

Diese Fähigkeit muss in vielen Fällen jedoch aktiv wieder kultiviert werden, da sie durch äußere „Räumfahrzeuge“ zu häufig überfahren wurden.

Doch wie machen wir das? Hierauf gehe ich im folgenden genauer ein.

Möchtest du lernen, deine Grenzen genauer wahrzunehmen und besser zu wahren?

Grenzen setzen Methode 1: Seine Grenzen identifizieren

  • Überlege dir für jede Form von Grenze (physisch, Eigentum, sexuell, intellektuell, spirituell, zeitlich und emotional-beziehungsbezogen) mind. 2 Beispiele aus deinem Leben.
  • Welche Grenzüberschreitung fällt dir dabei als erstes ein? Welche davon passiert dir am häufigsten? Vor allem Zweiteres ist eine sehr wichtige Information, denn du wirst von nun an besonderes Augenmerk auf genau diese Grenze legen. Setze dir bewusst als Ziel, diese Grenze in Zukunft zu „verteidigen“. Wenn du es nicht sofort schaffst, bzw. du nicht weißt, wie, dann können dir die nachfolgenden Tipps dabei helfen.

Grenzen setzen Methode 2: Werte definieren & Grenzen ableiten

Hierfür kannst du dir wieder meine nützliche Werteliste herunterladen, welche du etwas weiter unten siehst. Falls du es nicht schon einmal getan hast für eine andere Übung, so kannst du deine persönlichen Werte (das, was dir am Wichtigsten ist im Leben) auf dieser Liste markieren. Diese benötigen wir für den 2. Schritt der Übung.

Als Nächstes nimmst du dir einen Block und einen Stift und legst 3 Spalten an. In die linke Spalte schreibst du „Wert“, in die mittlere Spalte „Handlung“ und in die rechte Spalte „Grenzen, die ich dafür setzen muss“. Das kann dann wie folgt aussehen:

Wie du der Tabelle vielleicht schon entnehmen konntest, geht es hier darum, auf Verstandesebene zu verstehen, wie du dich verhalten musst, um deine Grenzen zu wahren. Denn oftmals ist uns gar nicht so bewusst, wenn jemand unsere Grenzen überschreitet (ob nun wir selbst oder Andere) und wir merken es erst zu spät. Hierfür ist diese Übung sehr hilfreich.

Grenzen setzen Methode 3: Die kleinen Dinge

Wenn es dir schwer fällt, deine Grenzen zu verteidigen, dann ist es natürlich nicht ratsam, direkt ins Büro des Chefs zu rauschen und ihm alle aufgestauten Ärgernisse der letzten Jahre plötzlich vor den Kopf zu schmettern.

Wir können das Kommunizieren unserer Grenzen jedoch mit kleinen, banalen Dingen üben. Du wirst merken, dass viele von uns selbst bei scheinbaren Kleinigkeiten oft nicht zeigen, was sie wollen.

Ein Beispiel für eine mögliche Übungssituation:
Wenn uns eine fremde Person anspricht und uns in ein Gespräch verwickelt, auf das wir überhaupt keine Lust haben, dann können wir hier üben, der Person höflich zu sagen, dass wir noch etwas anderes vorhaben, und die Situation zu verlassen.

Wenn du deinen Tag über immer wieder bewusst in dich reinspürst, dann wirst du viele dieser kleinen „Übungsspielplätze“ finden. Und jeder kleine Erfolg wird dir mehr Mut und Selbstvertrauen bringen, sodass du nach einer Weile auch größere Grenzübertritte kommunizieren und vermeiden kannst.

Grenzen setzen Methode 4: Die richtigen Worte finden

Dass Grenzen hin- und wieder von der einen Seite überschritten werden (oder es zumindest versucht wird), ist unumgänglich. Dementsprechend gehört es zu einer der essentiellsten Fähigkeiten, zu lernen, wie wir uns über unsere Grenzen klar werden, wie wir sie kommunizieren und wie wir agieren, wenn sie nicht respektiert werden.

Melina von Wirklich Leben

Weil Grenzen, wie dir aus den vorangehenden Übungen vielleicht schon klar wurde, etwas hochsubjektives und nicht sichtbar sind, können wir uns nicht einfach darauf verlassen, dass andere Menschen niemals unsere Grenzen zu überschreiten versuchen werden oder gar jeden meiden, der dies einmal tut. Andernfalls werden wir wahrscheinlich ziemlich einsam enden.

Natürlich sollten wir Personen meiden, die konstant und immer wieder versuchen, unsere Grenzen zu überschreiten, auch nachdem wir sie kommuniziert haben. Aber wir sollten bedenken, dass unser Gegenüber keine telepathischen Fähigkeiten hat, und jeder andere Grenzen hat. Wenn wir also nicht in der Lage sind, sie zu kommunizieren, kann es unser Gegenüber manchmal einfach nicht besser.

Es ist daher unabdingbar, dass wir uns unsere Grenzen bewusst werden und lernen, wie wir sie kommunizieren. Hierbei kann uns die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg sehr helfen.

Lest euch folgendes grafische Beispiel durch:

Kreisdiagramm Grenzen setzen

Aus meiner jahrelangen Erfahrung in der Arbeit mit Menschen weiß ich, dass ein nicht geringer Prozentsatz an Personen, die mit Martin am Projekt aus dem Beispiel arbeiten würden und über sein Verhalten frustriert wären, Martin das nicht so kommunizieren würden. In den meisten Fällen tatsächlich wüsste Martin nicht mal etwas davon, weil es ihm gar nicht kommuniziert würde. Entweder wird der Frust in sich hineingefressen oder man redet mit Anderen über den Ärger, aber selten mit der betreffenden Person selbst. Und wenn, dann ist man meistens bereits so am überkochen, dass man es nicht mehr in einer konstruktiven Art und Weise wie im obigen Beispiel schafft, sondern man ist laut, ungehalten, und verfällt in Vorwürfe:

– „Immer musst du die Deadline versemmeln!!!“
– „Nie kann man sich auf dich verlassen!!!“

Was dann natürlich dazu führt, dass Martin sich angegriffen fühlt und in die Defensive geht, vielleicht sogar aus Selbstschutz irgendeine Beleidigung zurückwirft.

Der Kreislauf der unausgesprochenen Grenzen

Der Konflikt eskaliert, und plötzlich stehen sich zwei verhärtete Fronten gegenüber. Beide Seiten fühlen sich verletzt und missverstanden, und daraus wächst Wut auf den anderen. Das Gehirn speichert die Lektion ab: „Konflikte ansprechen = schlecht“. Diese Prägung sorgt dafür, dass man beim nächsten Mal schweigt und den Frust erneut in sich hineinfrisst – und so beginnt der Teufelskreis von vorn.

Ihr seht also, wie wichtig es ist, seine Grenzen zu kennen und sie frühzeitig auf die richtige Art und Weise zu kommunizieren. Wenn du mehr lernen willst über die Gewaltfreie Kommunikation von Rosenberg – wirklich ein wundervolles Tool, das dir stundenlanges Nachdenken darüber, was du wie gesagt hast, ersparen kann – kannst du hier mehr Infos finden.

Fazit: Deine Grenzen zu kennen und zu achten macht dein Leben um einiges leichter – und lebenswerter

Grenzen setzen ist eine Kunst, die uns in unserer modernen, hektischen Welt vor Überforderung und emotionalem Ausbrennen schützt. Wie dieser Artikel gezeigt hat, ist das Erkennen und Wahren unserer Grenzen essenziell für unser Wohlbefinden und unsere persönlichen Beziehungen. Es gibt viele Arten von Grenzen – von physischen über emotionale bis hin zu intellektuellen – und jede hat ihre eigene Bedeutung und Herausforderung. Der Schlüssel liegt darin, bewusst zu erkennen, wo unsere eigenen Grenzen liegen, und Wege zu finden, diese zu verteidigen, ohne Angst oder Schuldgefühle.

Den Mut zu entwickeln, „Nein“ zu sagen, wenn es nötig ist, oder die eigenen Bedürfnisse klar zu äußern, ist ein Prozess, der Übung erfordert. Doch mit jeder bewusst gesetzten Grenze gewinnen wir an innerer Stärke, Selbstvertrauen und Respekt – sowohl für uns selbst als auch von anderen. Unsere Grenzen zu wahren bedeutet, Verantwortung für unser eigenes Leben zu übernehmen und Raum für das zu schaffen, was uns wirklich wichtig ist. Denn nur wer seine Grenzen kennt und respektiert, kann ein Leben führen, das erfüllt und in dem man wirklich man selbst sein kann.

Melina von Wirklich Leben

Wenn du Probleme damit hast, das Gelernte im Alltag anzuwenden, oder einfach das Gefühl hast, du brauchst jemanden an deiner Seite, bin ich gerne für dich da!

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